Tatsächlich bin ich mal wieder zum Lesen gekommen, also, zum Lesen (fast) eines ganzen Buches. Fast, weil ich einige Passagen von Andreas Reckwitz sehr anstrengend finde. Die soziologische Terminologie und seine Sprache sind streckenweise für mich schwer zu verstehen. Sehr anschaulich und spannend finde ich allerdings vor allem seine konkrete Beschreibung unserer singularistischen Lebensführung. Hierbei zählt er viele alltägliche Beispiele, in denen sich Singularität manifestiert.
Erhellend und zugleich etwas traurig war es für mich, zu verstehen, wie einsam es uns Zeitgenossen im Vergleich zu früheren Generationen macht, dass wir heute meinen, besonders sein, uns abheben müssen. Oft fühlte ich mich persönlich "ertappt" und sah mich in vielen Beobachtungen bei meiner Arbeit bestätigt, wo Reckwitz beschreibt, wie wie uns versuchen herauszuheben, statt uns mit einer Gruppe zu identifizieren. Natürlich schließen wir uns nach wie vor Gruppen an, aber, wenn ich Reckwitz richtig verstehe, ist unser momentaner Lebensstil stark von einer unausgesprochenen Logik geprägt, die man vielleicht in Anlehnung an Descartes als "Ich hebe mich ab, also bin ich" verstehen kann (diese Formulierung ist von mir, nicht Reckwitz). Beim Lesen wurde mir bewusst, wie anstrengend diese ständige Verbesonderung ist und dachte, wie "kuschelig" und entlastend es sein könnte, sich z. B. "der Arbeiterklasse" zugehörig und damit wohl zu fühlen, sich z. B. die gleiche Schrankwand und das gleiche Auto wie mein Kollege zu kaufen als Manifestation des Dazugehörens.
Paaren macht der Anspruch der Singularität das Leben meinem Eindruck nach auch nicht leichter. Wie soll ich mich für eine Partnerin oder einen Partner entscheiden, wenn ich vielleicht morgen schon einer Person begegne, die viel besonderer ist und mit der ich mich aus der Masse hervorheben kann? Wie soll ich mich mit einer anderen Person verbinden und zugleich besonders bleiben? Wie kann ich mit einer Person zusammenleben, die vielleicht "einfach nur" umgänglich, ansehnlich und liebevoll ist, aber keinen "Wow-Effekt" hat?
Meine Moral von der Geschicht ist, dass der latente Druck, besonders zu wohnen, zu reisen, zu essen usw., der mir bisher so nicht bewusst war, nicht sein muss. Und das empfinde ich als entlastend. Um mir erlauben zu können, einfach mal durchschnittlich zu sein, muss ich erstmal wissen, wie sehr der Anspruch der Singularität alltägliche Entscheidungen beeinflusst. Danke, Herr Reckwitz: ich finde es gerade herrlich, einfach eine von vielen zu sein.
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